Bundestagsrede 05.11.2015

Einführung von Gruppenverfahren

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

  
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Steineke, im Ergebnis habe ich nichts anderes erwartet, weil die CDU schon immer dagegen war. Die
wirklich spannende Frage war ja nur: Mit welcher Pirouette argumentieren Sie heute?

  
(Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Verfassungsrecht!)

  
– Na ja, wie das mit dem Verfassungsrecht ist, sehen wir, wenn es so weit ist, wenn es so ein Gesetz als Vorlage gibt.

  
(Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Wir haben doch eine Vorlage!) 

  
Das können Sie gerne behaupten. Ich behaupte das Gegenteil. Wissen Sie was? Ich meine, dass wir aktuell sagen können, dass es Gruppenverfahren braucht. Warum aktuell?
Weil wir sehen, dass sich die Verfahren in dieser Gesellschaft immer mehr verändern. Wie viele Verträge gibt es, bei denen es um ganz kleine Summen geht? Die Zahl dieser Verträge nimmt durch das Internet stark zu, und wir stellen fest – dazu gibt es Zahlen; das haben wir vor ein paar Tagen mit hochrangigen Richtern in der niedersächsischen Landesvertretung erörtert –, dass die Zahl der Klagen vor den Zivilgerichten abnimmt, insbesondere die der Klagen, bei denen es um kleine Summen geht.
Das hat meines Erachtens nicht nur damit zu tun, dass die Gerichte für die Bearbeitung viel zu lange brauchen, sondern auch damit – das sagt man mittlerweile so –, dass die Leute klein beigeben. Zwar sind 50 oder 20 Euro für sie persönlich extrem viel Geld, aber sie haben nicht den Mut, das Risiko einzugehen, zum Anwalt und womöglich durch mehrere Instanzen zu gehen.

  
(Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Sie zwingen doch die Leute zum Anwalt!)

  
Das ist doch keine Frage der Beutelschneiderei von Anwälten, sondern die Frage ist, ob sich das kleine Individuum angesichts eines größeren, mächtigeren Gegners, der mehrere Juristinnen und Juristen beschäftigt, überhaupt traut, sein Recht wahrzunehmen. – Dazu haben Sie kein Wort gesagt.

  
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) 

  
Anlässlich des Themas Muster- und Gruppenklagen hätten Sie ja auch einmal ein Wort zum pikanten Thema VW sagen können. Hunderttausende Kunden von VW, dieses großen Unternehmens, fragen sich heute: Was gilt eigentlich? Es gibt skandalöse Mängel bei der Aufsicht und der Aufklärung, und Sie sagen hier kein Wort zur Situation der Verbraucherinnen und Verbraucher.

  
(Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Weil das gar nicht passt!)

  
Die Frage, ob es sich um einen Motormangel oder einen Softwaremangel handelt, legt doch nahe, zu überlegen, ob sich Kunden zusammentun können, um gemeinsam auf Schadensersatz zu klagen.

  
(Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Gegen wen denn?)

  
Meine These lautet: Das wäre am Ende für VW sogar besser als 100 000 einzelne Klagen. Von Ihnen kam kein Wort dazu.

  
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Gegen wen sollen die denn klagen? Die können VW gar nicht verklagen! – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Und wegen was sollen die klagen?)

  
– Wenn Sie das Thema im Rechtsausschuss nicht immer vertagen würden, wenn Sie den Punkt VW nicht immer wieder von der Tagesordnung nehmen würden – mittlerweile zum dritten Mal –, dann wäre Ihnen vielleicht klar, gegen wen und auf was sie klagen sollen. Der Probleme gibt es genug: Wie setze ich Rücktritts- oder Minderungsrechte durch? Was ist mit Schadensersatzansprüchen? – Ich glaube, dass die Politik die Verantwortung hat, eine Handreichung zu erstellen, wie man klagen kann, und zu sagen, wie die Regelungen für die Zukunft verändert werden.

 
Für die von uns vorgeschlagene Änderung wäre VW ein klassischer Anwendungsfall. Wir haben gesagt: Es müssen mindestens zehn Gruppenmitglieder sein, die Ansprüche müssen den gleichen zugrundeliegenden Lebenssachverhalt betreffen und das Gruppenverfahren muss vorzugswürdig sein gegenüber Individualklagen. Das wäre der Fall.
Das wäre sinnvoll, und zwar nicht, weil die Anwälte besonders viel Geld verdienen, nein, solche Gruppenverfahren wären auch effizienter für die Amtsgerichte als Hunderte oder Tausende Einzelverfahren. Herr Steineke, Sie haben gesagt, dass es viel besser sei, wenn die Anwälte die Fälle individuell bearbeiten. Vielleicht können Sie nachher einmal sagen, wie viele einzelne Klagen mit einem Streitwert von 10 oder 50 Euro Sie in Ihrem Büro bearbeiten, obwohl das für Sie als Anwalt ein Zuschussgeschäft ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass das, was Sie hier erzählt haben, wirklich gaga war. Das war Kokolores.

  
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

  
Unsere Frage muss im Interesse der Verbraucher lauten – das hat die Anhörung für meine Begriffe ergeben –, wie die Barrieren, die angesichts des Risikos und der langen Wege bestehen, aufgelöst werden können. Ich muss Ihnen sagen: Ein Musterfeststellungsverfahren könnte eine gute Ergänzung eines Gruppenfeststellungsverfahrens sein, aber auch nicht mehr als das.

  
Wen und was wollen Sie eigentlich schützen? Die Reinheit der Lehre? Die Unantastbarkeit der ZPO? An anderen Stellen ändern Sie die Gesetze doch auch. Das, was 1879 beim Verfassen der ZPO galt, muss heute nicht mehr unbedingt gelten. Damals wussten Sie direkt, wer Ihr vertragliches Gegenüber ist. In der heutigen Zeit ist dies anonymer. Heute gehen Sie nicht mehr in Tante-Emma-Läden, sondern bestellen online. Sie haben mit großen Unternehmen zu tun. Unsere Verpflichtung ist, die Checks und Balances, die aus den Anfangszeiten der ZPO und des BGB stammen, heute und in Zukunft sicherzustellen.

  
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

  
Ich meine, man sollte den Kunden eine Möglichkeit geben, zu ihrem Recht zu kommen. Ich muss ehrlich sagen, Herr Steineke: Das, was Sie mit Blick auf die USA gesagt haben – Sie haben erzählt, was in den USA gilt –, interessiert mich gar nicht.

  
(Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Ich habe da gar nicht drüber gesprochen!)

  
Denn es gibt keinen Automatismus, dass US-Recht bei uns gilt. Hier in unserer Vorlage heißt es „opt-in“. Nur wenn man Ja sagt, nimmt man am Verfahren teil und muss ausdrücklich eine Teilnahmeerklärung abgeben.

  
Die Kostengrundentscheidung des § 91 ZPO bleibt.
Wenn Sie mitleidig darauf hinweisen, welche Schwierigkeiten man hat, wenn man vielleicht Kritik am Anwalt hat, sage ich Ihnen: Niemand muss mitmachen.

Sie haben keine Antwort auf die Frage gegeben, wie kleine Schäden von kleinen Bürgern gegenüber größeren Vertragspartnern eingeklagt werden können. Da kann ich nur sagen: Wer ein C im Namen hat, sollte sich eigentlich damit beschäftigen.

  
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)